F. Chopin
Etude A minor, op. 25/11
2009

8 Konzerte, 1 Männerfreundschaft

Mai 2016

Der musikalische Leiter der diesjährigen Ittinger Pfingstkonzerte ist Oliver Schnyder, gefeierter Pianist aus dem Aargau. Literarischer Sparringpartner der Musiker ist jeweils nach den acht Konzerten der Schriftsteller Alain Claude Sulzer. Das Motto heisst „Farbe bekennen“. Man sagt: Musik spricht zu uns. Sprache ist auch Musikalität. Wo liegen die Differenzen, wo die Ähnlichkeiten?

"Klavierpoet" nennen die Medien den 43-jährigen Oliver Schnyder, oder "eine Sensation des Musikalischen". Seit die Überväter András Schiff und Heinz Holliger, Gründer dieser im doppelten Sinn frühlingshaften Konzertreihe, die Kuration nach 19 Jahren in andere Hände gelegt haben, wird jedes Jahr eine neue künstlerische Leitung bestimmt.

Carte blanche

Im Sinne einer 'Carte blanche' darf für diese Ausgabe der Pfingstkonzerte Oliver Schnyder die musikalischen Akzente setzen und kann jemanden aus einem anderen Kulturbereich einladen, um das Programm zu erweitern, zu bereichern, zu hinterfragen. Seine Wahl fiel auf seinen Freund, den Schriftsteller Alain Claude Sulzer, dessen letzter Roman "Postskriptum" in den wichtigen Feuilletons gelobt wurde.

Es ist eine hübsche Anekdote, dass 2012, am Anfang dieser Freundschaft, auf Schnyders Nachttisch Sulzers Roman "Aus den Fugen" lag, und der Schriftsteller aus Basel, hingerissen von Oliver Schnyders Interpretation eines Haydn Klavierkonzertes, unbekannterweise zu später Nachtstunde eine Mail an den Musiker schickte. Tatsache ist, dass sich aus diesem nächtlichen Gruss eine Freundschaft entwickelt hat, die wie selbstverständlich zur Einladung des Schriftstellers Alain Claude Sulzer nach Ittingen geführt hat.

Vertiefender Zugang

Als einen interessierten, ahnungsvollen Laien bezeichnet sich der Autor etwas tiefstapelnd. Dass sein Wissen über Musik, über Interpretation, über das, was im Innern eines Werkes schlummert, viel weiter geht als bei einem durchschnittlichen Konzertgänger, wird schnell klar. Wie sonst erklärt sich, dass sich in vielen Booklets zu Schnyders CDs Texte von Sulzer finden lassen? Auch in Kolumnen und Essays äussert sich der Schriftsteller immer wieder zu musikalischen Themen oder zu einzelnen Musikstücken. Im Nachgang zu den einzelnen Pfingstkonzerten befragt der Autor die Musiker und den Komponisten David Philip Hefti und ermöglicht damit dem Publikum einen zusätzlichen, vertiefenden Zugang zum Musikvortrag.

88 Fragen

Alain Claude Sulzer, Sie haben - in Anlehnung an die 88 Tasten eines Klaviers - 88 Fragen vorbereitet, die Sie Ihrem Gegenüber im Anschluss an die Konzerte stellen werden.

SULZER: Es werden auch freche Fragen darunter sein; denn das Motto der Konzertreihe heisst ja "Farbe bekennen". In erster Linie sehe ich mich als Vermittler. Wenn sich das Publikum auch mit Fragen einmischen will, freut mich das. Der Kulminationspunkt wird die Podiumsdiskussion am Pfingstsonntag sein, die der Literaturkritiker Denis Scheck moderiert und an der ich auch teilnehmen werde.

Was verbindet Musik und Literatur?

SULZER: Zwischen Musik und Literatur besteht nicht einfach per se eine Verbindung. Musik spricht anders zu den Menschen, weil sie nicht die gleiche Klarheit hat wie ein literarischer Satz. Musik ist etwas Variables. Sie redet von Interpret zu Interpret anders. Eine Komposition kann uns allenfalls dann eine Geschichte erzählen, wenn wir vom ersten bis zum letzten Ton zuhörend mitgehen.

SCHNYDER: Ich sehe durchaus Parallelen und Symmetrien zwischen Musik und Literatur. Eine Partitur hat eine emotionale Sprache. Damit ich diese Sprache hörbar machen kann, muss ich mein Herz öffnen und alle meine Sinne gebrauchen. Mit melodischen, rhythmischen oder harmonischen Akzenten gebe ich einem Werk eine Struktur. Im Idealfall fühlt das Publikum dasselbe wie ich. Wäre mein Ausdrucksmittel nicht die Musik, es wären die Worte.

Geht es in der Musik wie in der Literatur nicht um die Suche nach dem Kern?

SCHNYDER: In der Musik muss man den dramaturgischen Kern kennen. Das kann beispielsweise die Emotion sein, die einem Werk innewohnt. Das muss ich erfasst haben.

SULZER: Diese Frage stelle ich mir gar nicht. Theoretische Fragen beeinflussen mich beim Schreiben kaum. Der innerste Kern der Literatur ist die Sprache.

Musiker stehen im Dienst des Komponisten, nicht so der Schriftsteller, der etwas Neues schafft.

SCHNYDER: Das stimmt. Ich sehe mich dennoch nicht als Sklave des Komponisten. Ich stehe zu meinem künstlerischen Ego. Denn bevor ich ein Werk interpretieren will und mir das gut gelingen soll, muss ich auf alle Fragen, die ich ans Musikstück habe, eine Antwort gefunden haben.

SULZER: Ein Übersetzter eines literarischen Werkes kommt einer Interpretation möglicherweise sehr nah. Aber eigentlich missfällt mir der Gedanke, dass die Übertragung von einer Sprache in eine andere mit einer Interpretation verglichen wird.

Welche Ausdrucksmittel hat die Musik, welche die Literatur nicht hat - und umgekehrt?

SCHNYDER: Humor ist etwas, das sich musikalisch schwer ausdrücken lässt. Musik kann Erinnerungen wecken, zum Beispiel an etwas Lustiges. Aber so etwas wie einen musikalischen Witz gibt es nicht. Hingegen kann Sprache mit Musik kombiniert witzig sein.

SULZER: In der Literatur dagegen ist es schwierig, Emotionen bewusst herzustellen und sie im Griff zu behalten. Emotionen sind etwas Persönliches, das schlecht berechenbar ist.

Welches der acht Konzerte ist für Sie der Höhepunkt?

SULZER: Ich freue mich unglaublich auf Schuberts Forellenquintett mit Oliver Schnyder.

SCHNYDER: Mein Höhepunkt ist der Sonntag mit der Gegenüberstellung der beiden Winterreisen. Am frühen Abend ist die Schubert Version zu hören und am späten Abend deren Jazz-Adaption von Matthias Rüegg. Diese Vorfreude hat auch mit meinem intendantischen Ehrgeiz zu tun.

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